Immer wieder geht die Sonne auf

Am Anfang war ein Link auf einer Social-Media-Plattform – am Ende waren stolze Schmerzen. Etwas erreicht zu haben, was genau in diesem Falle nur rund ein Viertel geschafft haben. 100 km in 24 Stunden.

Die Fakten

  • 101 Kilometer
  • Nettozeit: 19 Stunden 11 Minuten
  • Bruttozeit: 22 Stunden 55 Minuten
  • Durchschnitt: 5,26 km/h
  • Bergauf: 1`660 Meter
  • Bergab: 1`300 Meter
  • Höchster Punkt: 990 Meter
  • Tiefster Punkt: 510 Meter

Oder in einem Satz ausgedrückt: Laufe von München nach Mittenwald!

Ein Biergarten im Süden von München. Der Startpunkt. So um die 2`400 Menschen hatten ebenfalls das Ziel ca. 150`000 Schritte, je nach Körpergrösse, abzuleisten. Vom Alter her war alles vertreten, Mann wie Frau, trainiert und weniger trainiert. Alles im Allen ein buntes Treiben, schon wegen den unterschiedlichsten Outfits. Besonders fiel mir das Ritual des «Tapings» auf. Manche Starterinnen bzw. Starter hatten so viel Tape an den Beinen, dass fast keine Haut mehr sichtbar war. Ich verzichtete komplett auf diese Methodik, trank lieber drei «Halbe» und um 16:40 Uhr ging es für mich los.

Schon nach ca. 10 km sah man vereinzelt Menschen am Wegesrand sitzen. Die meisten unter ihnen waren «vollbeingetapt». Komisch! So gesellten sich zu den 12 m Tape an den Beinen, noch ca. 5 Blasenpflaster. Pro Fuss. Haut, ich hör dich nicht mehr atmen! Ich selbst war noch gut drauf. Lediglich mein Verdauungsorgan bedurfte der Aufmerksamkeit. Langsam begrüsste uns die Nacht. Um 20:40 Uhr erreichte ich mit 23 km in den Beinen das erste Etappenziel. Dieses diente gleichzeitig als Verpflegungsstation – Wasser, Müsliriegel, Obst, Russischbrot und Salzletten wurden an die Frau bzw. an den Mann verteilt. Genug für alle! Die «Fusskranken» wurden durch Sanitäter, welche Stirnlampen trugen, betreut. Warum der Sanitätsbereich, ein Zelt, nicht ordentlich beleuchtet wurde, entzog sich jeder Logik. Egal! Fast wie in meiner Bundeswehrzeit – nur mit Weisslicht, nicht mit Rotlicht.

Marschieren durch die Nacht. Der begrenzte Lichtkegel meiner Stirnlampe zeigte den Weg. Stupides Laufen irgendwo im Nirgendwo. Keine Ahnung wo ich war! Hauptsache auf dem richtigen Weg. Verlaufen wäre nicht wirklich schön. Ab und zu sah man die Lichter der «Vorläufer» (… die haben es gut) und die «Nachläufer» (… die haben es nicht so gut), jeweils aus meiner Sicht betrachtend. Die Nacht wurde bei km 41 durch das zweite Zwischenziel unterbrochen. Aus Sicht der Wasser- und Nahrungsaufnahme analog zu Station 1. Aber, die Verwundeten wurden nun unter anständigen Licht versorgt. Wie sang schon Udo Jürgens? «Immer wieder geht die Sonne auf!» Bei Kilometer 59 war es soweit. Der Moment hatte auch etwas Faszinierendes in sich. Ich sah das erste Mal die Berge der Voralpen. Genauer gesagt die Benediktenwand erstrahlte im Scheine des Morgens. Motivation! Zumindest für zehn Minuten!

Wie bereits erwähnt, hätte eine Abweichung vom Kurs fatale Auswirkungen. Grundsätzlich war die Beschilderung der Wege durch den Veranstalter in Ordnung. Aber Hallo, ein aus Steinen geformter Pfeil bei einer Abzweigung auf einem Schotterweg? Oder drei zu einem Pfeil ausgelegte Äste auf einen Waldweg? Nicht wirklich im wahrsten Sinne des Wortes zielführend! Ab und zu querte ein Scout auf einem E-Bike die Wege. Dessen Orientierungsfähigkeiten boten noch viel Luft nach oben und damit war auch die Qualität der Auskunft eher zweifelhaft. Und so kam es, dass er kurz vor dem Ort Kochel am See eine kleine Gruppe auf den direkten Weg nach unten lotste. Die korrekte Strecke wäre aber nochmal über einen Bergrücken – gut Hügelrücken, verlaufen und dann eben nach unten an den See. Den «Cheatern» schloss ich mich nicht an. Ich kam bald zu der Erkenntnis, dass ich auf dem Wege der Ehrlichkeit ziemlich alleine war. Fast wie im richtigen Leben! Der See und einige Wanderer kamen in Sichtweite und somit sollte dann auch Zwischenziel N° 3 anstehen. Nur es kam nicht. Plötzlich stand ich vor der alten Kesselbergstrasse mit Ziel Walchensee! Meine spätere Recherche ergab, dass ich in Kochel falsch abgebogen bin. Anstatt nach rechts bog ich nach links ab. Und so verpasste ich die N° 3 um rund 300 m. Egal. Es hätte eh nur wieder Russischbrot mit Wasser gegeben. Aber ein Kaffee hätte sicherlich gutgetan. Ehrlichkeit hat eben manchmal auch ihren Preis.

Der Anstieg zum Walchensee dauerte gefühlte drei Stunden. Irgendwie wollte die Steigung nicht aufhören. Eine Kurve noch – dann aber! Auf Höhe Seespiegel war ich genau um 09:00 Uhr. Um 09:08 Uhr kaufte ich mir bei einem Kiosk eine Flasche Radler. Als Ersatz für den verpassten Kaffee! Und ich muss sagen, das Biermischkaltgetränk mundete vorzüglich. Dann immer gerade aus. Links der See, dahinter die Berge und rechts die stark frequentierte Strasse. Nach 77 km erreichte ich den vierten und damit letzten Servicepoint. Es gab Russischbrot mit Wasser, zum Nachtisch Salzletten! Zurück gezogen im Schatten genoss ich diese Art des Frühstücks. Gleichzeitig beobachtete ich Mitarbeiter des Roten Kreuzes, wie sie wunde Füsse bearbeiteten. Interessant war in diesem Zusammenhang, dass das verwendete Material der Helfer aus den Regalen eines grossen Drogeriediscounters stammte. Ich dachte immer, dass Profis sich professionellen Materialien bedienen. Aber eigentlich egal, wenn es den teilweise blutigen Füssen half! Ich selbst hatte fussblasentechnisch gesehen keine Probleme. Klar, frisch sahen die nicht mehr aus, aber es ging. Probleme bereiteten mir mehr die Gelenke in Fuss und Knie. Und der verdammte Drecksrucksack. Wirklich nur mit dem nötigsten gefüllt, drückten die rund 7 Kilo auf Schultern und erzeugten somit stechende, pulsierende Schmerzen. Wohl auch aus Gründen der allmählich nachlassenden Körperspannung.

Es folgten rund 24 zähe und «Warum-tue-ich-mir-das-an?» Kilometer! Auch kam immer wieder der Gedanke: Stefan, hör auf! Motivation war gefragt. Nur wie? «Stefan, jetzt bist du schon soweit gekommen!» Arsch lecken! Brachte nichts! Dann auch noch eine Treppe mit ca. 20 Stufen. Seid ihr schon mal 97 km gelaufen und dann eine Treppe hoch? Nein, nicht die Schmerzen. Sondern der Bewegungsablauf war mir fremd. Eine erschreckende Erkenntnis! Ich motivierte mich schliesslich damit, dass ich mich nicht motivieren konnte und lief weiter.

Mittenwald. Eine oberbayrische Stadt mit rund 7`500 Einwohner. Um 15:35 Uhr, nach 101 km überquerte ich nach 22 Stunden und 55 Minuten die Ziellinie. Vom Hauptverantwortlichen wurde ich umarmt und ich bekam meine Medaille. Tränen in den Augen! Schon der Weg Richtung Endstation war Gänsehaut pur. In diesen Momenten spürt man keine Schmerzen mehr, nichts tut mehr weh! Dopamin, Serotin und all die anderen körpereigenen Drogen verrichteten vollste Arbeit. Im Rahmen der Siegerehrung bekam man auch einen Bon für ein Freibier. Sowas darf man nicht ausschlagen und der Tausch Bon gegen Bier musste umgehend ausgeführt werden. So will es das Gesetz! Ich war jetzt rund 36 h auf den Beinen und so langsam kam Müdigkeit auf. Und ausserdem musste ich noch mit dem Zug nach Garmisch-Partenkirchen fahren, wo ich mein gebuchtes Hotel hatte.

Die Fahrt dauerte so eine halbe Stunde. Bei meiner Ankunft wurde ich mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert. Wo bitte geht’s zum Hotel? Ich war zwar schon mal da, um mein Gepäck zu lagern, aber da war ich mit dem Auto unterwegs. Jetzt war ich Fussgänger mit 101 km in den Beinen und einer seltsamen Leere im Kopf! Taxi schied aus Gründen des Stolzes aus. Die Befragung von Passanten brachte stets die gleiche Antwort: «Wir sind auch nicht von hier!». Toll! Nach einer Odyssee durch die Strassen von Garmisch-Partenkirchen fand ich schliesslich das Hotel. Salzverkrustend checkte ich ein und mein Weg führte mich anschliessend direkt unter die Dusche. Danach einen mittelmässigen Burger in einem mittelmässigen Burgerladen. Wieder im Hotel angekommen nahm ich noch ein Bier mit auf das Zimmer. Geöffnet wurde es aber nicht mehr – nach gut 42 Stunden fiel ich in einen todesähnlichen Schlaf!

Am nächsten Morgen wurde die Leere im Kopf durch zwei Fragen eliminiert. Wo liegt überhaupt der Sinn von so einem Marsch und wird man zum Wiederholungstäter? Antworten: In allem was wir tun liegt ein Sinn und ich werde es nicht wieder tun (Stand heute).

In diesem Sinne … Glück auf!

Euer Stefan

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