Stefan Düsentrieb
1979. Ich habe es geschafft. Mein erster Ausseneinsatz. Mein Hemd, ach was sag ich, mein Uniformhemd durch Mutterhand frisch gebügelt und gestärkt. Ein bisschen gross, aber ich wachse ja noch rein. Ein bisschen steif und am Kragen kratzend, aber das legt sich nach intensiven Tragen. Besonders stolz bin ich auf das Abzeichen am Oberärmel des blauen Hemdes. Es zeigt ein rotes Kreuz, darunter das Wort: Jugendrotkreuz!
Meine Aufgabe die nächsten Stunden wird es sein, Lose zu verkaufen. Nicht in einer Fussgängerzone oder von Haustüre zu Haustüre ziehend, Nein, auf dem grössten Fest, welches meine Heimatstadt zu bieten hat. Die Kulmbacher Bierwoche, kurz Bierfest genannt. Ein Zelt mitten in der Stadt, keine Ahnung wie gross, wird aufgebaut. Rechteckig und in jeder Ecke eine Brauerei. Wir haben vier Brauereien in Kulmbach. Geht auf. Das Fest ist über die Grenzen hinaus bekannt, das Bier schmeckt wohl gut, also trifft man hier die halbe Welt. Das Bier als Getränk per se ist mir, mit meinen 14 Jahren unbekannt. Soll nicht heissen, dass ich es noch nie probiert habe.
Schwach erinnere ich mich an die Petri-Kirchweih. Hier hatte ich den ersten zarten Kontakt mit dem bitteren Getränk. Die Zärtlichkeit verflog rasch, das Bittere setzte sich durch und blieb. Daheim angekommen bemerkte meine Mutter natürlich den Zustand ihres Sohnes. Es folgte kein Geschimpfe, kein «Junge, wie konntest du nur?» Stattdessen überreichte mir meine Mutter eine Plastikschüssel, gross wie ein Wagenrad und einen feuchten Waschlappen. Deutete stumm auf das Sofa, schüttelte den Kopf und verliess den Raum. Ich habe eine gute Mutter. Irgendwann werde ich ihr das auch sagen. Nach fünf Minuten auf dem Sofa begann die Fahrt. Quer durch das Zimmer. Auf und ab. Die Schüssel diente als Lenkrad und Erfrischung brachte der Waschlappen auf dem Kopf. Irgendwann habe ich eingeparkt und bin in einen komaähnlichen Schlaf gefallen.
Jetzt geht es gleich «los». Ich erhalte von meinem Vorgesetzten einen kleinen Plastikbeutel. Darin die Lose, 100 Stück an der Zahl. Beutel aufgerissen und die Teile in das vordere Fach des Holzbauchladens geschüttet. Im hinteren Teil war ebenfalls ein Fach. Mit Deckel und mit Schlitz für das Geld. Eine kurze Einweisung folgte. «Immer mit den beiden Händen links und rechts die Klappe zuhalten, nicht dass du bestohlen wirst» so mein Chef. Also immer aufpassen!, so dieser abschliessend. Oh, mein Gott. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Meine grösste Sorge bis dahin, war, dass ich keine Lose verkaufen würde. Meine zwei Kameraden würden jeweils schon den vierten Plastikbeutel holen und siegessicher aufreissen. Und ich würde noch 98 Lose von Beutel Nummer eins im Kasten haben. Diese Sorge verpuffte jedoch schlagartig, als ich das Wort Diebstahl hörte. Aber wer macht sowas? Wer ist so dreist und beklaut eine Hilfsorganisation?
Es kann hier nur eine Antwort geben. Die Waisenkinder von Kulmbach! In dem Gedränge rund um das Festzelt fallen sie gar nicht auf. Aufgrund ihres Alters, so zwischen 4 und 7 Jahren sind sie zudem klein. Ein Teufelspack! Was wird aus denen später mal werden? Also fest die Klappe zuhalten, nach gut einer halben Stunde hatte ich in beiden Händen einen Krampf! Ausserdem wurde das Hemd nicht weicher. Im Gegenteil. Zum Kratzen des Kragens am Hals, kam noch ein Ziehen im Nacken hinzu. Verursacht vom Leder-Trageriemen des Holzbauchladens. Auch meine Füsse meldeten ständig: «Stefan, du stehst»! Aber egal. Ich bin motiviert und Ja, ich habe schon Lose verkauft. 12 Stück.
Sind 6 DM theoretischer Reingewinn fürs Rote Kreuz, da es meine Käuferschaft vorzog, Nieten zu ziehen. Der aufmerksame Leser wird sicherlich bereits errechnet haben, dass somit ein Los 50 Pfennig kostet. Sehr gut! Ein guter Betrag, auch unter Stress leicht zu addieren. Auch die Kontrolle durch den Chef war dadurch simpel. War das vordere Fach leer, mussten im hintern 50 DM sein. War zu viel drin, bekam man ein Schulterklopfen. Bei zu wenig, schob man es auf die …., ihr wisst schon! Ich erziele immer eine Punktlandung. Trinkgeld findet nicht den Weg durch den Schlitz, sondern in meine Hosentasche. Ich will ja nicht angeben, aber im Kopfrechnen bin ich gut. Ich gleiche ständig die Anzahl der noch verbleibenden Lose mit dem Geldbetrag ab. Waren noch 5 Lose am Start, mussten 47.50 DM im Pott sein.
Es kam aber manchmal vor, dass eine Differenz vorlag. War aber nicht schlimm, da von mir so kalkuliert. Erklärung! Oft waren es kleine Kinder, welche ihr Losglück bei mir versuchten. Vom Vater oder Mutter hochgehoben, zitterten ihre kleinen Hände in Richtung Lose. 5 DM, also 10 Lose. Aufgrund fehlender Feinmotorik grapschte das Kind 12 Lose auf einmal. Vater und Mutter blickten genau in diesem Moment weg und ich so: Passt! Sollte ich etwa dem Kleinkind die beiden zu viel entnommenen Lose wieder entreissen? Niemals! Also eine Mark vom Trinkgeld in die Kasse. Passt! Wenn dann noch das Kind den Hauptpreis, einen mit 23 Milliarden Styroporkügelchen gefüllten Teddybär gewonnen hätte, ich wäre verdammt glücklich gewesen. Das Kind gewann einen Trostpreis, ein kleines Feuerwehrauto mit nur drei Rädern. Es freute sich trotzdem, ich mich auch! Alle Schmerzen waren wie weggefegt, ich war in meinem Element. Leute, kauft Lose!
Lustig sind auch die Betrunkenen. Meist stellen diese ihren Masskrug, ein Gefäss, welches exakt ein Liter Bier fasst, auf meinen Holzbauchladen ab und bedienen sich der Lose. Trinkgeld gab es eine Menge! Ich musste nämlich feststellen, dass mit zunehmenden Alkoholkonsum das Verständnis für Zahlen abnimmt. 5 Mark. 10 Lose. Oft war schon bei Los 6 oder 7 Schluss und der Glückssuchende verschwand mit den Worten «Wehe, ich habe nichts gewonnen»!
Nach gut drei Stunden war Pause angesagt. Ich bekomme Zitronenlimonade und ein Paar Bratwürste. Mein Chef zeigt sich sehr zufrieden mit mir und ich kriege noch eine Limonade. Endlich mal setzen. Mit meinen Bauchladen, welchen ich im Dienst nie ablegte, suche ich mir eine geeignete Stelle. Diese finde ich ganz in der Nähe. Ein paar, schwach beleuchtete Treppenstufen bei einem Mietshaus. Ein herrliches Gefühl – sitzen und die Limonade geniessen. Nach zehn Minuten gehe ich zum Glückshafen, dem offiziellen Namen der Losbude, zurück.
Auf den Weg dorthin stelle ich fest, dass etliche Masskrüge am Boden stehen und die sind teilweise noch voll. Teilweise noch voll bedeutet aber gleichzeitig auch schwer. Und wer dann noch wild mit beiden Armen gestikulieren will, hat ein Problem. Also Scheiss auf die Hygiene und ab mit dem Krug auf den Boden. Da schmeisst doch niemand was rein!
Ich, am Glückshafen ankommend, stelle die Länge meiner Trageriemen neu ein, da ein tieferer Sitz eine gewisse Entspannung der Armmuskulatur garantiert. Die Arme waren jedenfalls dadurch freier in ihrer Bewegung. Stopp! In meinen Kopf fängt es an zu rattern. Gedanklich entferne ich den Holzkasten vom Trageriemen und befestige eine Art Köcher daran, mit den Innenmassen eines 1 Literkruges. Seitlich geschlitzt für den Henkel. Stefan Düsentrieb! Der Erfinder! Niemand wäre mehr gezwungen, seinen Krug auf den versifften Boden zu stellen. Die verschiedensten Namen geistern durch meinen Kopf. Muss was internationales sein, wegen den Chinesen und Amis, so ich gedanklich weiter. Dann noch irgendeinen doofen Spruch drauf, wie z.B. «Mein Krug, mein Leben», ich könnte Millionen verdienen. Mit vierzehn Jahren!
Ein unfreundliches «Eyyy, ich will drölf Looze!» reisst mich aus meinen Gedanken und holt mich zurück in die Realität. Ein sichtlich höchst betrunkener Typ, mit glasigen Augen und Sprachfehler, beraubt mich meiner Zukunftsplanung. Na warte! Ich sage dem schwankenden Mann, dass wir gerade eine Sonderlos-Preisrunde haben. 20 Stück für 20 Mark. Er strahlt schwitzend und zahlt. Nikotinverfärbte, dicke Finger entnehmen die Lose. Logischerweise verzählt er sich – er trollt sich mit 11 Losen. Ich lache!
Mein Dienst, wie auch das Fest neigen sich dem Ende zu. Auch die unsägliche Musik aus dem Zeltinneren verstummt. Lose will irgendwie keiner mehr. Ich nutze die Gelegenheit um die Menschen zu beobachten, welche sich auf den Nachhauseweg machen. Manchmal alleine. Manchmal zu zweit und manchmal in Gruppen. Mal still schweigend, dann wieder laut grölend. Aktives Beobachten macht Spass. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem man bemerkt, dass man selbst beobachtet wird. Ca. 30 m vor mir. Ein Mann, sein Alter schwer einzuschätzen. Sein Blick stets fragend auf mich gerichtet. Was will der von mir? Noch unheimlicher wurde die Situation, als ich feststelle, dass mir der Mann bekannt vor kommt. Obwohl noch nie vorher gesehen! Im Hintergrund höre ich meinen Chef. «Feierabend!» Ich drehe mich um, blicke aber nochmal zurück, der Mann ist verschwunden.
Die letzte Abrechnung am Abend. Im hinteren Fach sind 49.50 DM, somit sollte sich im vorderen Fach noch ein Los befinden. Fehlanzeige. Im Fach gähnende Leere! Ich schliesse aus, dass jemand zu viele Lose entnahm und wenn Ja, habe ich dies gesteuert. Also kann ich das Los nur verloren haben. Aber wo? Nach langem Überlegen die Antwort. Bei meiner Pause auf der Treppe!
Euer Stefan