Glückshafen

Das Zelt ist berstend gefüllt. Geschätzte 45° und ein Geruch aus Schweiss, Alkohol, Grillhähnchen und Erbrochenen, sowie sonstigen Körperflüssigkeiten. Genau in der Mitte das Podium. Dem Epizentrum des eigentlichen Lärms. In viel zu engen Kostümen, welche wohl eine Art Tracht darstellen sollen, geben hier einige Damen ihr Bestes. Besonders beim Refrain des jeweiligen Liedes erhält die Band Unterstützung von den Massen. Life is Life …. NANA NANA NA! Niemand sitzt mehr. Alle stehen und klatschen, grölen oder gehen dem Schlimmsten seiner Art nach – dem Schunkeln. Natürlich nicht stehend am Boden, sondern auf den Bänken. Sechs bis acht Menschen. Eine dynamische Last verteilt auf 220 x 25cm Holz. Statisch bedenklich, aber es geht. Klar, ab und zu verlässt einer unfreiwillig das 47.5cm hohe Brett – grössere Verletzungen sind aber selten.

Ich muss raus! An die frische Luft! Temperaturunterschied gefühlte 20°. Tut gut! Auch die Musik ist nur noch im Hintergrund zu hören. Balsam für die Ohren. Was aber bleibt ist das Gedränge. Die Idee der frischen Luft hatten nämlich alle. Gleichzeitig! Rein mathematisch müsste das Zelt also leer sein. Ist es aber nicht! Begründet wird dies durch die Tatsache, dass der Aussenbereich rund um den Stadel (…so der offizielle Name des Zeltes) von den Einheimischen geflutet wird. Man muss in diesem Zusammenhang drauf hinweisen, dass nur die wenigsten der Ureinwohner den Stadel betreten. Treffpunkt und Aufenthaltsraum ist und bleibt der Aussenbereich! Da stand ich also nun auch und beschloss etwas legendäres. Die Runde! Der Stadel hat eine Länge von 55m und eine Breite von 42m. Somit beträgt der Umfang 194m. Da man ja nicht an der Zeltwand entlang schrammen möchte, geben wir einen Abstand von umlaufend 3m hinzu. Ergebnis: U = 206m.

Zeitbedarf ohne Menschen, 5 Uhr morgens, 2 Minuten. Zeitbedarf mit Menschen, 21.30 Uhr abends, 73 Minuten. Zeitbedarf mit Menschen und Kontakt, 21.30 Uhr abends, 128 Minuten. Auf den Kontakt sollte ich, Nein, muss ich weiter eingehen! Man trifft bei der Runde Alle. Ehemalige Mitschüler. Ehemalige Arbeitskollegen. Ehemalige Kriegskameraden. Ehemalige Mithäftlinge. Ehemalige Freunde und Freundinnen. Ehemalige Feinde und Feindinnen. Also alles Menschen, die mich in meinem Sein begleiteten. Die Dialoge sind dem Gedränge geschuldet, von kurzer Natur. Meist belanglose Feststellungen, z.b. «Mensch, du lebst ja noch!» tauschen einander aus. Erschwerend kommt manchmal hinzu, dass bei dieser Art der Kommunikation der Gegenüber seine Muttersprache verloren hat. An einem langjährigen Auslandsaufenthalt lag das aber definitiv nicht. Oft bestätigt man das Wiedersehen auch mit einem kräftigen Prost, gefolgt mit dem Zusammenschlagen der Masskrüge. Die Runde wird nämlich immer mit einer Füllung Bier vollzogen. So will es das Gesetz!

Ich schaffte die Runde in 102 Minuten. Eine gute Zeit! Zurück am Ausgangspunkt, oft mit der Frage im Kopf: «Wer was der mit der Brille?», zünde ich mir eine Zigarette an. Ich rauche tief und schnell – will weg von hier! Mein Bier noch austrinken und dann ab. Entsetzt musste ich feststellen, dass die Runde ihren Tribut forderte. Mein Masskrug war voller als vor dem Start. Zwei Zigarettenstummel, ein halbes Fischbrötchen, eine Zahnspange und die Visitenkarte eines Taxiunternehmens tummelnden sich im brackigen, rostbraunen Restbier. Somit entfiel die orale Leerung, nicht aber die ordnungsgemässe Rückgabe des Kruges. Irgendwann hatte man nämlich das Pfand eingeführt. Stolze 5 Euro musste man für so ein Glasgefäss hinterlegen. Normalerweise kein Problem, aber mein Krug war ja nicht wirklich leer. Irgendwo schnell auskippen, schied aufgrund der Menschenmenge aus. Zu gross war die Gefahr einer Massenpanik, wenn sich der Inhalt meines Kruges auf die Füsse einiger Menschen ergiessen würde. Ein Stück Fisch und/oder ein Zwiebelring auf fast nacktem Fuss, nicht wirklich schön. Zumindest bei FlipFlop-Trägern. Also nahm ich Anspruch von Plan B. Den Krug auf den Boden gestellt, eine Körperdrehung um 360° und Zack!, der Krug war weg. Magie!

Nein! Keine Zauberei! Die vielen Waisenkinder der Stadt, meist zwischen 4 und 7 Jahre alt, entdeckten das Geschäft mit der Rückgabe der Bierkrüge. Aufgrund ihrer Körpergrösse huschten sie gekonnt, für uns Erwachsene unentdeckt, durch das Gewimmel und sammelten ihre Beute. Grundsätzlich in Ordnung. Wäre da nicht der Umstand, dass die Kinder von den 5 Euro, 4.50 Euro an den jeweiligen Heimleiter abgeben mussten. Ihnen bleiben also 50 Cent pro Krug für ihre recht abenteuerlichen Taten. Nicht fair! Die Sammelaktionen der Waisenkinder war bekannt. Auf Warntafeln wurde optisch und per Lautsprecherdurchsagen akustisch darauf hingewiesen. Also stets den Krug am Mann/an der Frau und nie ausser den Augen lassen. «Ich geh mal pissen, pass bitte auf meinen Krug auf»!, der Standardsatz unter den Besuchern.

Ein schlauer Kopf erkannte den Missstand und brachte eine Lösung auf den Markt. Eine Art Köcher, aus Plastik oder edler in Leder, mit den Innenmassen eines 1 Literkruges. Seitlich geschlitzt für den Henkel. Ein stabiler und längenverstellbarer Ledergurt, sorgte für eine körpernahe und durchaus bequeme Trageweise. Natürlich konnte das Teil auch personalisiert bestellt werden. Oft konnte man «Mein Krug, mein Leben» oder «Stoppt Waisenkinder» lesen. Jedenfalls verkaufte sich das Teil zigfach. Um auch im internationalen Markt Fuss zufassen, bekam des Teil den Namen BMH, die Abkürzung für Beer Mug Holder. Auch hier rund um den Stadel standen Menschen mit dem BMH. Gab ihnen dieser doch die Möglichkeit mit beiden Händen bzw. Armen wild zu gestikulieren. Und diese verdammten Waisenkinder hatten auch keine Chance mehr. Ich selbst sah in dem BMH nur ein weiteres Utensil, um den Gipfel der Peinlichkeit zu erklimmen.

Stunden vergingen und so ganz langsam lichtete sich der Raum. Raum im Sinne von draussen! Auch im Stadel waren jetzt einige Lücken zu erkennen und Ja!, die Musik verstummte auch! Die Massen bewegten sich Richtung Innenstadt. Dort warteten die zahllosen Kneipen.

Diese kleinen, einfachen, aber auch gemütlichen Lokale, die man vor allem aufsucht, um dort etwas Alkoholisches zu trinken (Quelle: google). Als hätten die schon nicht genug! Egal! Bevor es jedoch in die Down Town ging, hielt man bei an einer bestimmten Ecke an. Nein, nicht zum urinieren! Klar, das auch! Aber nicht an dieser Ecke! Ziel war ein Gebäude, welches eben an dieser Ecke schon lange stand. Früher war hier die Feuerwehr untergebracht und nach deren Umzug in modernere Liegenschaften, machte sich ein Lokal darin breit.

Die Bewohner der Stadt, kleinbürgerlich erzogen und lebend, rühmten sich oft damit, anderen Menschen die hochinformative Mitteilung zu übermitteln, dass man in dem Lokal am Sonntagmorgen gefrühstückt hat. Jeder hätte geantwortet: «Und, was willst du mir damit sagen?» Hast du ein Stück Seife im Kopf, oder was?» Nein! Nicht in dieser Stadt. Um sich nicht die Blösse zu geben, gab man als Antwort: «Ich war letzten Sonntag drin» und hoffte natürlich, dass dann nicht das Gegenüber äusserte: «Komisch, ich auch!» Dann schnell kontern: «Da haben wir uns ja verpasst»! Dann noch etwas blöd dazu grinsen und fertig. Ich schweife ab, wir sind noch an besagtem Abend. Vor dem Lokal war eine Bar aufgebaut. Von der Sache her eine gute Sache! Warum nach sechs Litern Bier nicht einen Cocktail für den Nachhauseweg? Einen sogenannten Absacker! Völlig legitim und für 12 Euro durchaus fair. Klar, der alkoholische Anteil im Getränk war verschwindend gering und messtechnisch nicht zu erfassen, aber wer merkte das schon! Hier sich noch einen Cocktail einzuverleiben, hatte den Gegenwert von zweimal hier Sonntagsfrühstücken.

Ganz in der Nähe der Bar entdeckte ich etwas, das nicht wirklich zu diesem ganzen Kladderadatsch passte. Fast schon altertümlich wirkend, stand dort eine weisse Bude. Ich erkannte ein Kreuz in roter Farbe und einen Namen. Mit dicker Schrift stand da: Glückshafen. Ah, ha! Eine Losbude. Davor vereinzelt Menschen, die ihr Glück versuchten. Dieses jedoch meist nicht fanden. Das bewiesen die auf dem Boden liegenden ehemaligen Lose – jetzt Nieten. Es mögen Tausende gewesen sein, wenn nicht Zehntausende! Was ich noch beobachtete war ein Junge, der mit Stolz und Hingabe die Lose verkaufte. Sein Alter schätzte ich auf 14 oder 15. Sein Hemd, wohl eine Art Uniform, da ein Abzeichen am Oberarm wies die Farbe «Blau ausgewaschen» auf und war ein wenig zu gross. Was muss sich der arme Junge den ganzen Abend für eine Scheisse anhören, wenn irgendwelche besoffenen Typen ihr Losglück unter Beweis stellen wollten? Ich empfand kurz Mitleid, sah aber dann, dass der Junge in all dem was er tat, glücklich wirkte.

Sofort wusste ich, was zu tun ist. Lose kaufen und zwar genau bei diesem Jungen. Kleingeld fand ich nicht mehr in meiner Hose und den Fünfer hatten die Waisenkinder. Ich hatte aber noch ein paar Scheine und die sollten wohl reichen. Auf gehts! Klar, ich hatte auch schon Bier getrunken, aber betrunken im Sinne von Betrunken war ich nicht. Dennoch schaffte ich es nicht zu dem Jungen zukommen. Tat ich einen Schritt vorwärts, kam es mir so vor, als dass der Junge mitsamt dem Glückshafen einen Schritt zurück machte. Ich beschloss loszurennen, vielleicht wird dadurch der Spuk beendet. Es half nichts! Ich war am verzweifeln, als ich vor einer hohen Hauswand stand. Keine Losbude, kein Junge. Hatten irgendwelche Schweine, während meiner Runde, etwas in mein Bier getan? Nein! Unmöglich! Schliesslich hatte ich den Krug samt Inhalt dem Waisenhaus gestiftet. Andere Drogen? Fehlanzeige!

Ich musste mich erstmal setzen. Einige, in gedämpften Licht gehaltene Stufen, in der Nähe «meiner Erscheinung» boten sich hierfür an. Erstmal ein rauchen! Im Schein des Feuerzeugs sah ich vor mir etwas auf dem Boden. Nicht irgend etwas. Nein! Es war ein Los!

Euer Stefan.

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