Heute essen wir Pizza!

Heute befassen wir uns mit Entscheidungen. Nachstehender Text ist allseits bekannt. Ich werde ihn aber nach meiner geistigen Freiheit interpretieren bzw. ergänzen. Seid gespannt!

Eine verregnete Samstagnacht. Meine Uhr zeigte 22:45 Uhr. Langweile. Ich ging nochmal raus in Richtung Stadt. Der Weg dorthin führt über eine Brücke. Ein imposantes Stück Architektur. 300m freigespannt, 78 m hoch. Sie verbindet die Vorstadt mit der Innenstadt, unter der Konstruktion verkehren Züge in rasanten Geschwindigkeiten.

In der Mitte der Brücke ankommend, sah ich plötzlich einen Menschen. Um diese Zeit sicherlich nicht ungewöhnlich, aber er stand auf der anderen Seite des Geländers. Es handelte sich um ein Mädchen. Geschätzt 15 Jahre. Ihre Absicht war mir sofort klar. Ich hörte ihn mich. Mein Verstand lautstark: Stefan, dreh um, nicht dein Bier! Mein Herz flüsterte: Stefan, hilf! Herz über Verstand. Ich sprach das Mädchen mit dem Satz: «Du hast aber eine komische Art, einen Zug zu besteigen», an. Die Zeit stand kurz still, dann konterte das Mädchen: «das geht dich gar nichts an!» Der Umstand, dass sie nicht sofort sprang, gab mir den Mut einfach weiterzureden. Wirres belangloses Zeug ohne viel Sinn, aber wirkungsvoll. Manchmal wurde ich sogar durch sie unterbrochen oder sie stellte eine Frage. Ich zündete mir eine Zigarette an. Sie auch. Ein Bein der Fünfzehnjährigen war schon auf der sicheren Seite des Geländers.

Noch nicht zu sehen, aber zu hören. Ein Zug nahte. Bis dieser unter uns durchrauscht, musste ich es unbedingt schaffen, dass das «komplette» Mädchen auf meiner Seite steht. Ein «Packen und Rüberziehen» à la Hollywood erwog ich aber nicht, trat ihr aber näher. Dabei sah ich, dass wir nicht alleine waren. Gut 78 m unter uns, waren zwei Gleisbauarbeiter damit beschäftigt, das Gleisbett auszubessern. Mit einer gewissen Gelassenheit arbeiteten sie vor sich her. Warum hören sie den herannahenden Zug nicht? Warum werden sie nicht von der Leitstelle gewarnt, dass in ca. drei Minuten eine Masse von rund 500 Tonnen mit einer Geschwindigkeit von 250 km/h die Stelle passieren wird, an welcher sie sich gerade befinden? Das Mädchen bekam von dem nichts mit. Sie bildete geschickt Ringe aus dem Rauch ihrer Zigarette und ich entdeckte sogar ein kurzes Lächeln in ihrem Gesicht. Aber über dem Berg, im Sinne von «ich springe nicht» war sie sicherlich noch nicht.

Die Arbeiter mit Zuruf zu warnen, schied aus. Erstens trugen diese, Gehörschutz und zweitens, wollte ich das Mädchen nicht verunsichern. Ich warf mein Feuerzeug in Richtung der Schaffenden nach unten. Verfehlte aber mein Ziel. Beim erneuten Blick nach unten, sah ich etwas. Eine Weiche! Vom Typ her «Old School», also mit so einem Hebel an der Seite. Beim Schalten der Weiche, würde der Zug auf das parallele Gleis geleitet. Warum noch so ein Teil aktiv im «Dienst» ist und nicht im Deutschen Museum in München ausgestellt ist, entzog sich meiner Kenntnis. Ich wusste jedoch, dass das Ganze noch funktioniert, da ich schon Züge auf dem Parallelgleis fahren sah.

Ohne Mädchen alles kein Problem. Ich bräuchte ca. zwei Minuten zur Weiche und alles wäre gut. Vor allem im Sinne des Weiterlebens der beiden Arbeiter. Aber das Mädchen ist nun mal da! Ihr die ganze Situation zu erklären, schied aus Zeitgründen aus. Ich hatte nur verdammte zwei Minuten! Auch hätte ihr, mein Verhalten wieder einmal gezeigt, dass sie nicht wichtig ist im Leben. Wie vielleicht zu oft in ihrem jungen Dasein.

Eine Entscheidung musste getroffen werden. Fakt ist, ich kann nicht alle retten. Entweder das Mädchen, in dem ich weiter mit ihr rede und so ihr Vertrauen gewinne. Oder die beiden Arbeiter, in dem ich die Weiche umstelle. Fakt ist auch, wenn ich gar nichts unternehme, sterben alle! Gebe ich dem Mädchen «Vorrang», bedeutet dies ja aber auch lange noch nicht, dass sie wirklich von ihrem Vorhaben Abstand nehmen wird. Vielleicht zeigt sie mir nach einer Stunde Rederei den berühmten Finger und springt. Dann liegen auch alle drei da unten. Eine Person frisch, die anderen beiden seit 57 Minuten. Bei den Gleisarbeitern müsste ich nur den Hebel umlenken, ein rein physikalischer Vorgang. Keine Psychologie wie bei der Fünfzehnjährigen. Und schliesslich würde ich zwei Menschenleben retten. Aber sind zwei Menschenleben mehr wert als ein Menschenleben? Weiter gehts. Und das Mädchen in Jahren jung, noch viel Schönes vor sich. Die beiden Arbeiter schon älter, hatten schon viel gesehen und ein Stück Leben genossen. Darf man das bewerten und dient es der Entscheidungsfindung? Was wäre, wenn ich die Arbeiter rette, das Mädchen zwangsläufig dadurch sterben würde und es stellt sich heraus, dass sie die Tochter eines der Arbeiter war. Muss ich überhaupt helfen? Ausserdem will das Mädchen ja sterben, die Arbeiter nicht!

Stimmt. Die Geschichte ist überzogen und bildet wohl kaum eine Situation ab, in welcher wir uns einmal befinden werden. Aber sie zeigt schonungslos auf, dass wir im Leben Entscheidungen treffen müssen. Und daraus resultiert, dass etwas oder irgendwer das Nachsehen haben wird. Eine Entscheidung zugunsten aller Beteiligten scheidet aus. Auch sind Kompromisse, also Einigungen durch gegenseitige Zugeständnisse, nicht tauglich, da bei diesem alle verlieren. Schliesslich stammt das Wort aus der lateinischen Rechtssprache. Bei den alten Römern unterwarf man sich dem Schiedsspruch eines angerufenen Schiedsrichters. Und Unterwerfung ist nie gut. Ausserdem, wie sähe der Kompromiss für vorstehende Geschichte aus?

Die Geschichte zeigt aber auch auf, dass wir mit unseren Entscheidungen nicht zu lange warten dürfen. Zu oft verschieben wir diese und hoffen, dass sich die Sache von selbst regeln wird. Weit gefehlt! Niemand ist in der Lage für uns eine Entscheidung zu treffen. Zum Umstand, dass eine Entscheidung getroffen werden muss, führen die unterschiedlichsten Faktoren, welche wiederum unterschiedlichste Prioritäten aufweisen. Vielleicht muss ich noch hinzufügen, dass hier von elementaren Entscheidungen die Rede ist. Und nicht so Floskeln, wie «ich habe dir die Entscheidung abgenommen – heute essen wir Pizza!»

Noch wichtiger als der Entscheid ist die Tatsache, dass man sich dafür verantworten muss. Nicht vor anderen, sondern vor sich selbst. «Rette ich das Mädchen, sterben die Arbeiter»! So ist es nunmal und damit muss man leben können. Mit unseren Entscheidungen definieren wir anderen gegenüber Freude oder Leid. «Unsere Tochter lebt – unsere Ehemänner, unsere Väter sind tot»!

Abschliessend muss ich noch darauf hinweisen, dass einfachste Entscheidungen unserseits komplexe Auswirkungen auf unsere Mitmenschen haben können. Wir bestellen uns heute Abend keine Pizza, sondern kochen selbst. Der Inhaber der Pizzeria steht kurz vor der Pleite, wird wohl den Laden schliessen müssen. Nix mit dem E-Klasse Modell für ihn. Kann er aber noch verschmerzen. Aber seiner fünfzehnjährigen Tochter, Giorgia, muss er eröffnen, dass ihr Pferd Artax verkauft werden muss. Der Kreis schliesst sich!

Euer Stefan

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