Die letzte Visitenkarte

Gibt es Entscheidungen, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt unmöglich von einem selbst mehr zurückgenommen werden können? Die einen sagen Ja, die meisten sind aber der Meinung, dass alles im Leben revidiert werden kann. Nur mit den Konsequenzen müsse man eben klarkommen. Ich gehöre zu den Ja-Sagern und möchte dies auch mit einem Beispiel begründen.

Also, nehmen wir die Inschrift beim eigenen Grabstein. Ich entscheide heute, dass dieser ein gewisser Text zieren soll. Zum Zeitpunkt X, wenn also der letzte Vorhang gefallen ist, habe ich der Logik folgend keine Möglichkeit mehr, den Text zu ändern. Leuchtet doch ein, oder? Klar gibt es eine Abhängigkeit von den Zurückgelassenen, so nach dem Motto, das können wir doch unmöglich machen. Aber letztendlich ist mein letzter Wille zu achten und auszuführen. Als Lebender nicht immer einfach, wäre ich als Untoter, der keine Ruhe findet, alles andere als erträglich. Und wer will das schon? Aber ich möchte den Focus zurück auf den Grabstein bzw. auf dessen Inschrift lenken. Wer hat sich denn schon von uns darüber Gedanken gemacht, was auf seiner letzten, meist steinernen Visitenkarte, stehen wird? Ich denke dieser letzte Auftritt von einem selbst ist zu wichtig, diesen Part den Dagebliebenen zu überlassen. Was in diesem Zusammenhang noch in Betracht gezogen werden muss, ist die eigentliche Grösse des Grabsteins. Je grösser dessen Fläche, desto mehr Text wäre möglich. Dies soll aber jetzt nicht weiter ausgeführt werden. Wir gehen davon aus, dass unser Text grössentechnisch und typografisch im Einklang mit der Fläche steht. Der Name, vielleicht der Beruf, die Zeiten der Ankunft und der Abfahrt sind Standard und zeugen von relativ wenig Kreativität. Mein derzeitiger Favorit ist folgender Text «I was somebody», darunter z.B. 04.1834 bis 12.1912. Ganz schlicht auf einem kleinen liegenden Stein. Besser noch auf einen Holzkreuz. Eiche, nicht poliert und geschliffen. Roh, kein Lack und bloss keine gerundeten Kanten.

Zurück zur Inschrift! Das geniale an diesem Satz ist der Umstand, dass jeder Leser zwangsläufig mit einer Frage konfrontiert wird. Wer oder was war er/sie eigentlich? Manchmal eine recht kurze Antwort, z.B. ein Arschloch, manchmal aber auch durchaus längere und nachdenkliche Momente. Im Prinzip aber eine Aufforderung zur Interaktion, obwohl man schon tot ist. Irgendwie unheimlich. Warum stellen wir uns eigentlich immer die Frage, was für ein Mensch der Gegenüber, der Nachbar oder eben in unserem Falle, der da unten, ist? Warum nicht mal die Frage: Wer sind wir selbst? Wer sind wir? In diesem Zusammenhang fällt mir die Erzählung «Johannes» von Heinz Körner, erschienen im Lucy Körner Verlag, ein. Auch darin geht es um so essentielle Fragen, wie das Sein! Und dass es auf die Frage «Wer bin ich?», nur eine Antwort geben kann. Nämlich «Ich bin!» Und das Präteritum, also die erste Vergangenheit von «bin» ist «war». Der Zusammenhang mit der Inschrift ist deutlich erkennbar und auch so gewollt. Das «jemand» ist im Prinzip nicht notwendig, da es lediglich ausdrückt, dass es sich um eine Person oder Menschen, bekannt (… ich kenne jemand) oder unbekannt (… da lag jemand) in Bezug auf den Sprechenden, handelt. Also weg damit. Wieder sechs Buchstaben gespart! Auf dem Eichenkreuz soll also der Satz «Ich war» in schwarzer Schrift stehen. Im Rahmen der Bewegung «Minimalistisches Leben nach dem Tod» kann auch auf das Geburts- bzw. Sterbedatum verzichtet werden. Meist sind die Menschen sowieso damit überfordert, das Lebensalter aus den beiden Daten rechnerisch zu ermitteln.

Ich hoffe ich konnte euch dazu bewegen, über eure letzte Visitenkarte nachzudenken. Aber bitte, wählt euch euren eigenen Grabstein nebst Beschriftung, denn ein Friedhof lebt von seiner optischen Vielfältigkeit. Möglich wäre aber auch eine Wiese, eine Hügellandschaft. Am Eingang ein schweres handgeschmiedetes Tor mit der Inschrift «Wir waren».

In diesem Sinne … wir sind!

Euer Stefan

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